Mit Blaulicht beim Volvo Winterfahrtraining

Räuber und Gendarm auf Eis und Schnee

Mitte Januar veranstaltete die Volvo Car Switzerland AG in Saanen-Gstaad die Volvo Winter Driving Experience 2023. Knapp zwei Dutzend Fahrzeuge flitzten über den Parcours und die Offroad-Piste. Mittendrin: Ein Polizeifahrzeug. Was steckt dahinter?

Eisblumen zieren die Scheiben der Hotelterrasse und beim Gang nach draussen knirscht der bitterkalte Schnee gut vernehmlich unter den Stiefeln. Endlich Winter! Bei strahlend klarem Himmel und gut zehn Grad unter Null herrschen perfekte Bedingungen, um bei der Volvo Winter Experience 2023 wortwörtlich zu «erfahren», weshalb Fahrphysik weit mehr ist als jene Theorie, die am Abend zuvor behandelt wurde und bei der zwei Begriffe hängenblieben: «Quadratur» und «Kammscher Kreis».

Die Quadratur des Tempos und der Kammsche Kreis

Die Quadratur besagt, dass die Wege, die Kräfte und auch die mutmassliche Dauer der Spitalaufenthalts nach einem Crash (so man ihn überlebt) mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunehmen. Doppeltes Tempo bedeutet 80 statt 20 Meter Bremsweg, vierfache Fliehkraft in Kurven, vier Mal härterer Einschlag am Baum und ein Monat statt nur eine Woche Schmerzen, weil 16 statt nur vier Knochen gebrochen sind.

Wer dies nicht erleben will, sollte den vom deutschen Ingenieur Wunibald Kamm ersonnenen (Reibungs-)Kreis kennen. Der offenbart, was die Ursache war, wenn es «in die Hecke» statt «um die Ecke» ging: Die Haftreibung ist abgerissen! Konkret bildet der Kammsche Kreis – in idealisierter Form – die beim Beschleunigen, Bremsen, Lenken sowie in Kurvenfahrt auf den Pneu einwirkenden Längs- und Seitenführungskräfte ab. Sein Radius entspricht dabei der maximalen Haftung – und diese hängt, das wissen alle Autofahrer, insbesondere von der «Verzahnung» des Reifens mit dem Untergrund ab. Im Winter, auf Schnee oder gar Eis, ist der Radius klein bis winzig. Das ist zwar grundsätzlich unerfreulich – aber perfekt zum Üben. Denn auf Eis und Schnee werden die Grenzen der Fahrphysik schon bei wenig Tempo spürbar und Ausrutscher enden (Stichwort Quadratur) glimpflich.

Ab auf die Piste – und an den Steilhang

Wie sich die Theorie in der Praxis anfühlt, kann bei der Volvo Winter Driving Experience erlebt werden. Diese hat vier Zutaten: Ein 60 Hektar grosses, vereistes Übungsfeld beim Flughafen Saanen, einen Offroad-Parcours, vier erfahrene Instruktoren und eine Flotte aktueller Volvo-Fahrzeuge, vom grossen SUV XC90 über den Kombi V60 und die Limousine S60 bis zu den vollelektrischen C40 und XC40 Recharge. Sie alle stehen auf dem Übungsfeld. Doch was bitte hat das Polizeieinsatzfahrzeug vom Typ XC60 T6 AWD Recharge in diesem Pulk verloren? Die Antwort: Das mit Plug-In-Hybridtechnik und Allradantrieb aufwartende Polizeiauto «gehört» heute dem Verfasser dieser Zeilen – der damit «Räuber und Gendarm auf Schnee und Eis» exerzieren wird.

Der «Elchtest» auf Schnee und Eis

Das erste Einsatzszenario heisst «Bremsen, Ausweichen und Spurwechsel». Das macht Sinn, denn plötzlich auftauchende Hindernisse, etwa ein auf die Fahrbahn laufendes Kind, sind eine potenzielle Gefahr – auch auf Dienstfahrt. Also rein ins Polizeiauto und los geht’s … oder eben auch nicht! Schon beim durchaus vorsichtigen Anfahren wird die Theorie des Kammschen Kreises zur Realerfahrung: Auf dem vereisten Untergrund haben die durch die Kälte starr gewordenen Reifen kaum Grip. So kämpft der XC60 um Halt und Vortrieb, bis die Antriebsschlupfregelung eingreift. Nun setzt sich das Polizeiauto in Bewegung – langsam erst, dann mit Vehemenz, bis bei Erreichen von Tempo 60 km/h links vor der Motorhaube ein glutrotes Licht aufflammt. Dieses signalisiert, dass die quer über die Fahrbahn aufgestellten Pylonen nach rechts umfahren werden müssen. Der linke Fuss kracht, eine echte Notbremsung simulierend, hart wie Thors Hammer aufs Bremspedal. Die Hände reissen das Steuerrad beherzt nach rechts … doch das Polizeiauto schiesst fadengerade weiter auf die Pylonen zu.

«Untersteuern ist immer und einzig die Ursache von zu viel Tempo!», hatte der Instruktor am Abend erklärt. Zeitgleich mit dieser Erinnerung zackt der XC60 – nach Sekundenbruchteilen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen ­– nach rechts weg. Gerade noch rechtzeitig … Ein herzliches Merci den Entwicklern der Fahrassistenten, in diesem Fall Antiblockier- und Fahrstabilitätsprogramm. Dank diesen kommt der Polizeiwagen nur wenige Meter hinter dem denkbar knapp verfehlten Hindernis zum Stehen.

Es folgen weitere Versuche, mit mehr und mit weniger Tempo sowie in zwei Varianten: Erstens «Zeitgleich Bremsen und Steuern», zweitens «Erst Ausweichen, dann Bremsen». Der erste Fall entspricht der typisch menschlichen Reaktion, die zweite Variante ist verblüffenderweise etwas einfacher zu fahren – verbunden mit einem markant längerem Anhalteweg natürlich.

Die Übung beweist: Das richtige Tempo ist das Ein und Alles! Was bei 55 km/h bestens und bei 60 km/h gerade noch so klappt, ist bei 64 km/h ein hoffnungsloses Unterfangen. Ist der Speed zu hoch, geht es dahin! Weil selbst das beste Regelsystem die Physik nicht ausser Kraft setzen kann.

Parallelslalom statt Verfolgungsjagd

Der zweite «Einsatz» ist eine Verfolgungsjagd. Allerdings, weil es dabei garantiert zur Kaltverformung mindestens eines der beteiligten Autos kommen würde, nicht «Stossstange» an «Stossstange», sondern nebeneinander – auf einem Parallelslalom: Die «Polizei» tritt im XC60 gegen ein «Gangsterduo» im S60 Polestar an. Letzterer bietet mehr Power, einen tieferen Schwerpunkt und – letztmalig bei Volvo – die Möglichkeit, das Fahrprogramm «Sport» anzuwählen, welches grössere Driftwinkel zulässt.

Nach drei Duellen ist klar: Trotz «Überlegenheit auf dem Papier» haben die Gangster keine Chance! Was vor allem daran liegt, dass die «Polizisten» besser zugehört haben, als der Instruktor die Zusammenhänge von Lastwechselkräften und Grip erklärte. Wissend um diese bremsen sie jede Pylone an, steigern damit den Anpressdruck der Vorderachse, was höhere Lenkkräfte ermöglicht. Aufs Gas treten sie erst, wenn alle vier Räder geradeaus zeigen – weil nur dann maximal viel Beschleunigungskraft übertragen werden kann. Und sie verzichten auf überbordende Hektik, umrunden die Pylonen mit Gleichmässigkeit. Das sieht zwar langsam aus, ist aber schneller als der Fahrstil der «Gangster», die in wildem Zickzack-Kurs übers Eis schwänzeln. Die Erkenntnis lautet: Nicht alles, was schnell aussieht, ist auch effizient – und wenn es an Haftung mangelt, liegt die Kraft noch stärker in der Ruhe als ohnehin schon.

Das Phänomen der Schräge

Nach zwei Übungen auf dem topfebenen Übungsplatz führt der dritte «Einsatz» in die Saanener Berge. Dort, im ersten Drittel eines 45 Grad steilen Hangs (100 Prozent Steigung), entdecken die «Polizisten» zwei zu Fuss flüchtende Ganoven. Nichts wie hinterher! Doch der erste, unüberlegte Versuch, die Flüchtigen mit dem Auto einzuholen, scheitert – an zu hohem Tempo und den so provozierten Lastwechseln! Beim starken Beschleunigen bergauf wird die Vorderachse des Polizeiautos (zu) stark entlastet – weshalb die Vorderräder haltlos durchdrehen. Trotz Allradantrieb.

Nur eines hilft: Kommando zurück, retour rollen bis zum Startpunkt – und das Geländefahrprogramm anwählen. Nun regelt die Elektronik den Antrieb so, dass zwar ein gewisser Grad an Schlupf der Räder möglich wird, diese aber nicht wild durchdrehen. So geht es sicher und beständig bergan. Freilich nicht im Eiltempo, aber doch deutlich schneller als die Ganoven zu Fuss den Hang erklimmen.

Nach der «Verhaftung» der Bösewichte am höchsten Punkt muss das Auto wieder «runter vom Berg». Dabei bremst das Geländeprogramm den nun mit vier Personen besetzten XC60 kräftig ein – und verhindert dabei zuverlässig ein längeres Blockieren der Räder, da dieses zum Verlust der Seitenführung und damit zu einem Dreher führen würde. Damit dies funktioniert, muss der Fahrer alles ausser dem Steuern dem Auto anvertrauen – und beide Füsse fernab der Pedale lassen. Angesichts der Steilheit des Gefälles vor der Motorhaube bedingt dies mindestens beim ersten Mal etwas Mut und noch mehr Technikvertrauen. Doch es klappt wunderbar.

Fazit: Unspektakulär aber effizient und sicher

Am Ende eines lehrreichen Kurses steht fest: Fahrphysik ist alles andere als langweilig – und gegen den, der die Begriffe «Quadratur» und «Kreis» verinnerlicht hat und ein modernes Auto fährt, dessen Fahrassistenzsysteme Schleudern auf Schnee und Eis wirkungsvoll verhindern, haben Ganoven auf der Flucht keine Chance! Angepasstes Tempo vorausgesetzt konnten wir mit dem Volvo XC60 selbst auf blankem Eis zügig um Pylonen kreiseln, Hindernissen ausweichen und steilste Auf- und Ab- sowie Schrägfahrten sicher meistern.

Hoffte ich selbst am Morgen noch auf möglichst viele Drifts, schätze ich nun, dass Volvo bei seinen Fahrzeugen dieses möglichst gar nicht mehr zulässt. Natürlich wirkt das «Fahren wie auf Schienen» auf Eis und Schnee von aussen betrachtet sehr unspektakulär. Am Steuer aber fühlt es sich richtig gut an, weil es hocheffizient und sicher ist – und damit genau das Richtige für Einsatzkräfte, die bei jedweden äusseren Bedingungen an jedwedem Einsatzort zu 100% ihren Job erledigen müssen. Beispielsweise dann, wenn sie ein Fahrzeug bergen müssen, dessen Fahrer dem «freudvoll lustigen» Wedeln mit dem Heck frönte – bis die Gesetzte der Fahrphysik ihn unverhofft einholten.

Winter Experience Day für Blaulichtkräfte?

Die Volvo Car Switzerland AG überlegt, abhängig vom vorhandenem Interesse 2024 ein Wintertraining speziell für Angehörige von Blaulichtkräften abzuhalten. Interessierte wenden sich bitte an Mauro Zanello, Director Fleet von Volvo Schweiz, mauro.zanello@volvocars.com.